Diese Offenheit des Jazz untersuchte erst kürzlich auch das Darmstädter Jazzforum mit auffallenden thematischen und personellen Überschneidungen mit dem Panel, um das es hier gehen soll. Es sieht also so aus, dass sich zumindest bei einem Teil der Jazzszene in den letzten Jahren ein Bewusstsein herausgebildet hat, dass es einiges nachzuholen gibt, was das Thema Vielfalt betrifft – eine begrüßenswerte Entwicklung, die jedoch, wie von den Panelist*innen betont wird, im Vergleich mit anderen Ländern wie den USA (selbstverständlich mit einer anderen gesellschaftlichen Situation) oder auch innerhalb Deutschlands im Vergleich mit anderen Disziplinen wie Tanz und Theater recht spät kommt. Paradoxerweise ist diese Entwicklung wahrscheinlich unter anderem auch dadurch zurückgehalten worden, dass gerne die Freiheit so groß auf die Fahnen geschrieben wird und leicht verleugnet werden kann, wie gesellschaftliche Probleme wie Rassismus, Sexismus oder Klassismus nicht vor der Jazzwelt halt machen.
Diese Probleme werden während der zweistündigen Veranstaltung noch einmal beispielhaft und aus verschiedenen Blickwinkeln beschrieben. Harald Kisiedu verweist unter anderem auf die vom Pianisten Elias Stemeseder mit anderen Musiker*innen gegründete Initiative „Musicians For“, die die Umstände der Verleihung des Deutschen Jazzpreises kritisiert hat. Laut der Initiative sei zwar im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit viel erreicht worden, aber dies sei noch lange nicht genug. Die fehlende Repräsentation von BIPoC-Jazzmusiker*innen zeige eine „fehlende Beachtung, Solidarität und darüber hinaus Anerkennung“ innerhalb einer Musik, deren „Wurzeln in der Schwarzen Musik Amerikas“ liegen. Schnell landet das Gespräch also bei der Notwendigkeit, intersektional zu denken. Verschiedene Arten von Diskriminierung (bzw. Privilegien) greifen auf vielfältige Weisen ineinander und im Kampf gegen eben jene sollten wir nicht, während wir uns einem Problem stellen, die anderen völlig aus den Augen verlieren und sie schon gar nicht gegeneinander ausspielen. Es werden zum Beispiel auch häufiger während des Panels die Fragen nach sowohl den prekären Lebensbedingungen von Jazzmusiker*innen als auch nach den Schwierigkeiten, als Kind von ökonomisch benachteiligten Eltern in die akademische Welt des Jazz zu finden, gestellt. Diejenigen, die sich näher mit diesen Themen auseinandersetzen möchten, sollten die Veranstaltungen dieser Reihe zu Klassismus (02.12) und Intersektionalität (20.01.) im Blick behalten.
Wichtiger Ansatzpunkt ist hier selbstverständlich die Bildung — ein weiteres Thema, dem sich die Jazzunion auch noch einmal gesondert widmet. Aber Musikunterricht muss nicht nur bezahlbar sein. Im Optimalfall beginnt bereits hier eine Sensibilisierung für die sozialen und historischen Kontexte von Musik. Spätestens jedoch im Bereich der Hochschulen sollte hier etwas getan werden. Gabriele Maurer hätte sich beispielsweise in ihrem Studium eine Einbettung von inhaltlicher Auseinandersetzung mit der Musik und ihrer Geschichte in die Ensemblearbeit gewünscht. Außerdem müssten selbstverständlich auch die Lehrkörper vielfältiger zusammengestellt sein. Dazu teilt Cymin Samawatie ihren Eindruck, dass bei Personalentscheidungen immer noch zu häufig aus Bequemlichkeit konservativ vorgegangen wird. Johanna Schneider wiederum kann von ihren Erfahrungen mit der Organisation des PENG-Festivals berichten, dass man mit der Art der Präsentation auch durchaus ein jüngeres und vielfältigeres Publikum für den Jazz begeistern kann. Mit Entscheidungen, die mehr marginalisierten Musiker*innen in wichtige Positionen bei Veranstaltungen, Jurys oder im Bildungssystem verhelfen, werden erst die Möglichkeiten, Räume und vor allem Vorbilder dafür geschaffen, dass sich in der Breite Menschen sowohl auf Seite der Musiker*innen als auch des Publikums eingeladen und gleichberechtigt fühlen. Vielleicht kommen wir so auch Harald Kisiedus Forderung nach einem Jazzbegriff, der „[…] Umbrüche und Veränderungsprozesse aktiv mitgestaltet und der nicht ästhetizistisch unbeteiligt oder gar defensiv ist, sondern Impulse für Transformationsprozesse in die Gesellschaft hineinträgt“ näher.
Zuletzt noch ein Hinweis, an den ich als Verfasser dieser Zeilen wieder mal erinnert wurde: Es ist wichtig auf Menschen zu hören, die von Ausschlüssen oder Benachteiligungen betroffen sind und ihnen Plattformen zu bieten. Das bedeutet aber nicht, dass sich Menschen in privilegierteren Stellungen dann zurücklehnen können. Sie stehen noch viel mehr in der Verantwortung für diese Belange aktiv einzutreten (ganz im Sinne des noch folgenden Workshops „be a better ally“). Hierbei können wir also hoffen, dass von den Veranstaltungen der digitalen Akademie sowohl empowernde Wirkung für marginalisierte Gruppen als auch Bewusstwerdung von Privilegien und Verantwortungen sowie Multiplikatoren-Effekte über den Kreis der Teilnehmenden hinaus ausgehen – also, dass Teilnehmende gewonnene Erkenntnisse nicht für sich behalten, sondern in ihre Lebenswelt mitnehmen.