„Jazz ist farbenblind.“ – „Wer gut spielt, ist Teil der Gemeinschaft.“ – „Musik ist eine universelle Sprache, die alle sprechen können, unabhängig von sozialen Kategorien.“
Dass das nicht so einfach ist, wird in den letzten Jahren immer deutlicher, in denen sich die Beziehung der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft zum Begriff „Rassismus“ verändert. Wurde er bislang benutzt, um die Verbrechen während des Nationalsozialismus bis 1945 oder Verbrechen von sogenannten Einzeltätern zu beschreiben, setzt sich mehr und mehr ein anderes Verständnis durch.
Referent der Veranstaltung „Rassismus, Differenz und Ungleichheit in der musikalischen Praxis“ der Digitalen Akademie der Deutschen Jazzunion ist Özcan Karadeniz. Er ist Politikwissenschaftler und systemischer Berater und unter anderem Geschäftsführer des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften Leipzig. In der Veranstaltung erklärt er, dass Rassismus ein “sozialraumstrukturierendes” Phänomen sei. Das bedeutet, dass es in allen Bereichen der Gesellschaft Einfluss hat. Das Problem liegt darum nicht nur in Handlungen und Äußerungen von Einzelpersonen, sondern in der Art, wie unser Zusammenleben aufgebaut ist. Rassismus ist Teil von ungleichen Machtverhältnissen. Weil auch Musik Teil der Gesellschaft ist, gibt es Rassismus eben auch im Jazz. Während der Veranstaltung wird dazu Claus Melter zitiert, der schreibt:
„Wenn Diskriminierungen in einer Gesellschaft systematisch und über einen längeren Zeitraum von einer Gruppe, die ihre Interessen machtvoll durchsetzen kann, praktiziert werden, kann von systematisch ungleichen Machtverhältnissen gesprochen werden, also von Herrschaftsverhältnissen.“
“Othering”, auf deutsch „VerAnderung“, spielt dabei eine wichtige Rolle. Gruppen werden konstruiert, homogenisiert und hierarchisiert, um die Herrschaft der dominanten Gruppe zu rechtfertigen. Um ein „Wir“ aufzuwerten, wird ihm ein als rückständig, autoritär, traditionell, religiös etc. dargestelltes „Anderes“ gegenübergestellt.
Özcan Karadeniz geht in diesem Zuge auf europäische Werte wie Emanzipation, Aufklärung und Freiheit ein. Durch diese Erzählungen wird das überlegene europäische Selbst konstruiert, obwohl gleichzeitig Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Zeit der Aufklärung vor allem von Europa ausgingen. Die Erzählungen wurden bis heute kaum durch marginalisierte Positionen erweitert, weil das Interesse der Dominanzgesellschaft, die Verhältnisse nachhaltig zu verändern, nach wie vor gering ist.
In den letzten Jahren erlebt der sogenannte “Kulturrassismus” besonderen Aufschwung. Dabei wird die Minderwertigkeit einer Gruppe mit einem „Kulturdefizit“ begründet, wie es zum Beispiel bei antimuslimischem Rassismus der Fall ist. Dabei ist Rassismus extrem wandelbar und wird an verschiedene Zeiten und Kontexte angepasst. Özcan Karadeniz beschreibt diesen Prozess als “Rückgriff auf [ein] rassistisches Wissensarchiv “. Je „brutaler, verbohrter, rückständiger“ das „Andere“ dabei dargestellt wird, desto mehr Auswirkung hat dies auf das eigene Selbstverständnis. Kulturelle Praktiken wie z.B. Sprache spielen dabei eine essenzielle Rolle. Sie ermöglichten die materielle und politische Herrschaft während der Kolonialzeit und tragen auch heute zur Aufrechterhaltung von ungleichen Machtverhältnissen bei. Der Begriff der „kolonialen Kontinuitäten“ bezeichnet diese Allgegenwärtigkeit der kolonialen Machtstrukturen.
Als Studentin an einem Jazzkonservatorium fällt mir auf, wie wenig sich in Jazzgeschichtsveranstaltungen kritisch mit Kolonialismus und Rassismus auseinandergesetzt wird. Ich habe dort meistens gehört, dass Rassismus vor allem in den USA und in den ersten Jahrzehnten der Entstehung von Jazz ein großes Problem war. Es wurde aber kaum thematisiert, inwieweit Rassismus und seine Verbindung mit anderen Unterdrückungsmechanismen wie z.B. Klassismus und Sexismus noch heute in der Jazz Community fortbesteht. Dabei wäre es zum Beispiel sehr interessant, sich die Jazzgeschichtsschreibung genauer anzusehen. Für die musikalische Berichterstattung in Zeitungen zum Beispiel waren (und sind?) vor allem weiße Männer verantwortlich. Obwohl viele von ihnen Jazzfans waren, trugen auch sie zur Weiterverbreitung von Vorurteilen bei. Beispielsweise die Verherrlichung der Jazzmusiker als „naturgegebene“ Genies verkannte die langen Jahre des Studiums und die fundierte klassische Ausbildung, die viele hatten (siehe dazu zum Beispiel Philipp Terietes Artikel “From Leipzig to St. Louis: Einflüsse deutscher Musiktheorie und -pädagogik auf die Entstehung des Ragtime, Blues und Jazz.”).
Am Ende der Veranstaltung weist Özcan Karadeniz darauf hin, dass es notwendig ist, bei der Beschäftigung mit Rassismus die eigene Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen, weil wir alle nur über ein fragmentiertes Bewusstsein verfügen. Wie bin ich als Künstlerin selbst in Machtverhältnisse verstrickt? Wo kann und sollte ich mehr Verantwortung für meine eigene Position übernehmen? Das Infragestellen dominanter Erzählungen/Perspektiven und unbequeme Erinnerungsarbeit nennt der Referent dabei als Ansätze. Natürlich liegt es in der individuellen Verantwortung aller, sich mit Rassismus generell und auch in Bezug auf die eigene künstlerische Praxis zu beschäftigen. Gleichzeitig bin ich aber auch der Meinung, dass Institutionen wie Musikhochschulen eine große Verantwortung tragen und z.B. Lehrinhalte regelmäßig kritisch hinterfragen und überprüfen lassen sollten.
Bei der individuellen Auseinandersetzung mit Rassismus kann der Verein PHOENIX e.V. helfen. Er bietet schon seit vielen Jahren Trainings für von Rassismus betroffene Menschen und Anti-Rassismus-Trainings für Menschen an, die sich kritisch mit ihrem weißsein auseinandersetzen möchten.
Kim Kamilla Jäger
begann im Alter von sieben Jahren mit dem Klavierspiel und entdeckte mit 15 Jahren ihre Liebe zum Cello. Nach einem Improvisationsworkshop an der Other Music Academy in Weimar fand sie den Weg zu den Berliner Cellisten Stephan Braun und Susanne Paul, wo sie begann, mit Jazz und Improvisation zu experimentieren. In ihrem Spiel und ihrer Forschung setzt sich Kim vor allem mit Jazztraditionen und frei improvisierter Musik sowie mit feministischen postkolonialen Theorien auseinander. Für ihre Masterarbeit denkt und hört sie derzeit mit Wasser.
Kontakt
Deutsche Jazzunion e. V.
Markgrafendamm 24 - Haus 16
10245 Berlin
Deutschland
post@deutsche-jazzunion.de
Kontakt
Deutsche Jazzunion e. V.
Markgrafendamm 24 - Haus 16
10245 Berlin
Deutschland
post@deutsche-jazzunion.de