Da steht das Erste fĂĽr die Arbeiter*innenschicht, das Zweite fĂĽr das BildungsbĂĽrgertum, und das Dritte fĂĽr eine Familie, die den Klassenaufstieg geschafft hat. Und was sagt es aus, wenn der Autoreifen nicht mehr Alltagsgegenstand in der elterlichen Werkstatt ist, sondern als Fotografie zur Kunst wird? Dann beschreibt er im selben Kontext eine Diskrepanz von Klassenherkunft zu aktueller Klassenposition. Aber was soll das eigentlich sein, eine Klasse? Und was hat der Autoreifen mit Jazz zu tun?
Einen Schritt zurück. Klassismus ist eine Form des Ausschlusses, die erst seit wenigen Jahren wieder stark in gesellschaftlichen Diskursen thematisiert wird. Wichtige Veröffentlichungen waren beispielsweise die beiden soziologisch angehauchten Biografien „Rückkehr nach Reims“ (2016) von Didier Eribon oder Édouard Louis´ „Das Ende von Eddy“ (2015). Auch im deutschsprachigen Raum häufen sich Publikation wie „Solidarisch gegen Klassismus“(2020), herausgegeben von Francis Seeck und Brigitte Theißl oder „Ein Mann seiner Klasse“(2020) von Christian Baron. All diese Bücher und viele weitere Podcasts, Forschungsprojekte, Performances usw., thematisieren die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder der sozialen Position. Sie richtet sich meist gegen Angehörige einer benachteiligten oder weniger privilegierten sozialen Klasse. Während der Begriff der Klasse seit den Veröffentlichungen von Karl Marx und Friedrich Engels im 19. Jahrhundert immer wieder als ideologisch aufgeladener Kampfbegriff genutzt wurde, dient er jetzt als Analysekategorie, um die unterschiedlichen Voraussetzungen der Mitglieder einer Gesellschaft in Hinblick auf Zugang und Teilhabe zu beschreiben. Es geht um den Zugang zu verschiedenen Bereichen einer Gesellschaft. Und hier kommt der Autoreifen wieder ins Spiel. Und der Jazz.
Ein wichtiger Aspekt in Verena Brakoniers Workshop sind die verschiedenen Kapitalsorten nach Pierre Bourdieu (1930-2002, französischer Soziologe). Als ökonomischer Fachbegriff beschreibt Kapital die zur Erstellung von Gütern verfügbaren Ressourcen, also beispielsweise Geld, Zeit oder Rohstoffe. Wer schon über solche Mittel verfügt, hat die Möglichkeit durch Investition und Gewinne und das dadurch gewonnene Geld an noch mehr dieser Ressourcen zu kommen. Ähnlich verhält es sich aber auch mit dem von Bourdieu geprägten Phänomen des sozialen und des kulturellen Kapitals. Wer über ein gutes Netzwerk verfügt, hat mehr Möglichkeiten durch gute Kontakte beispielsweise eine Stelle zu kriegen. Und wer einen hohen Bildungsabschluss hat, wer gängige kulturelle Formate und Inhalte und gängige Sprech- und Verhaltensweisen kennt, hat Zugang zu mehr Bildung, mehr Kultur, mehr gesellschaftlichen Kontexten. Zusammen bilden diese Kapitalsorten ab, wie handlungsmächtig eine Person in der Gesellschaft ist.
Durch den intensiven biographischen Austausch der teilnehmenden Jazzmusiker*innen und -pädagog*nnen wird klar, in der Musik, speziell im Jazz, spielen diese Aspekte ebenfalls eine wichtige Rolle. Denn in seinem Kampf um Anerkennung hat der Jazz den Weg der Akademisierung und Professionalisierung gewählt. Oder um es mit den Worten einer Teilnehmerin zu sagen: „Man muss Musiker*in sein, um Musik studieren zu können“ – es gibt also ganz konkrete Voraussetzungen, um Teil des kulturellen Geschehens um improvisierte Musik zu werden, zum Beispiel braucht es kulturelles Kapital in Form von musikalischer Bildung oder eines abgeschlossenen Hochschulstudiums. Ebenso Ökonomisches Kapital (meist auch das der Eltern) für Ausbildung, Instrumente, die Möglichkeit zu prekären Bedingungen zu arbeiten sowie soziales Kapital im Sinne eines Netzwerks von Musiker*innen, Veranstalter*innen und anderen Förderer*innen. Wer diese Kapitalsorten nicht von zu Hause mitbringt, hat es deutlich schwerer. Noch stärker werden diese Ausschlussmechanismen, wenn intersektionale Aspekte wie Gender oder Kultureller Hintergrund eine Rolle spielen.
Viele der Teilnehmenden des Workshops haben aber eher das Gefühl „zwischen den Welten“ zu stehen. Klar, wir beschäftigen uns alle mit intellektuell anspruchsvoller Musik. Aber muss sie das sein? Und klar, wir haben teilweise studiert und haben hohe Bildungsabschlüsse. Aber brauchen wir das, um improvisierte Musik zu machen? Hat improvisierte Musik nicht auch gerade das Potenzial viel zugänglicher zu sein als andere Kunstformen? Könnte Jazz nicht ohne teure Instrumente, Kanonwissen (das Wissen über eine gängige stilistische Sprache, Methoden und Stücke) und Einübung von bestimmten Sprech- und Verhaltensweisen auskommen? Gleichzeitig ist es für mich auch ein gutes Gefühl mich in dieser Bubble auszukennen, mich hier zu Hause zu fühlen und auf viele Gleichgesinnte zu treffen. Wie schafft man es, dass diese Besonderheit der “Jazzfamilie” nicht verloren geht, sie gleichzeitig aber zugänglicher wird, gerade für Menschen die nicht aus akademischen Haushalten stammen?
Der Austausch über Autoreifen und Kontrabassbögen hat viele dieser Aspekte für mich überhaupt erst sicht- und sagbar gemacht. Verena Brakoniers Workshop war ein Auftakt, um den Zusammenhang von Jazz und Klasse zu thematisieren. Ein dreistündiger Workshop kann aber nur der Auftakt sein, für eine weitere Auseinandersetzungen mit dem Thema. Die Digitale Akademie bietet hier hoffentlich viel Raum, um das Thema weiter zu denken, damit wir uns in Zukunft mehr Gedanken um den Zusammenhang von Autoreifen, Kontrabassbögen und Weingläsern machen.